Villiers de l'Isle-Adam
 

"(Die Marter der Hoffnung"
aus
"Grausame Geschichten")

...

Es war der Rabbi Aser Abarbanel,
ein aragonischer Jude, der von der
spanischen Inquisition am folgenden Tage
(langsam) verbrannt werden solle.
Nachdem man ihm diese Nachricht überbracht hatte,
bemerkte er, dass sie Zellentür durch ein
Versehen nicht richtig verschlossen
worden war.

Nach langem Zögern entschloß er sich zu Flucht.

Nach vielen, vielen Strapazen und Ängsten
erreichte er die Freiheit.
Die Freiheit mit ihrem Sternenhimmel, mit
ihrem Horizont, ihren Winden, dem Duft
nach Leben und Frühling.

Doch dann sprach eine Stimme zu ihm. Die
Stimme des Großinquistitors.

"Und während Rabbi Aser Abarbanel, dessen
Augen unter den Lidern hervortraten, in den Armen
des asketischen Dom Arbuez [der besagte Priester halt]
röchelte und nur wirr begriff, dass alle Phasen dieses
schicksalsschweren abends nur eine vorgesehene Marter,
nämlich die der Hoffnung, waren, flüsterte ihm der
Großinquistitor im Tone eines stechenden Vorwurfes
und betroffenen Blickes ins Ohr:
'O mein Kind! Am Vorabend des möglichen Heils ...
wolltet Ihr uns also verlassen!"
 
 
 

Okay ... es ist nicht ganz fair, dass ich hier
eventuelles zukünftiges Lesevergnügen boykottiere,
indem ich hier in eigenen Worten die ganze Geschichte
wiedergebe .... aber so spürt man wenigstens etwas
von der Genialität des l'Isle-Adam.

Viel muss nun nicht mehr gesagt werden. Wir haben hier
halt schrecklich gute Geschichten, die ohne die
ganzen Folterwerkzeuge des nicht minder
genialen Poe auskommen.
Keine pochenden Herzen. Keine glühenden Wände.
Keine Gruben. Keine Pendel.

Nur Tiefsinn und Subtilität.

Schön.
:)
 
 

 (Lieblings-) Werke

Grausame Geschichten