Der Wespenstich

Wie lange er schon durch das Grün irrte, wusste er nicht. Grün. Dschungelgrün. Dschungel. Ja. Dschungel.
  Wieder wurde ihm bewusst, dass jene grüne, jeden Blick verhaltende Wand aus Bäumen, Ranken und Farnen bestand. Und während er durch diese feuchte, brütend heiße Hölle wankte, während dieses feuerlose Inferno des Lebens mit Händen aus Ranken, mit Krallen aus Dornen nach ihm griff, versuchte er sich zu erinnern, was eigentlich geschehen war.
So lange irrte er schon umher, dass er sich kaum noch entsinnen konnte. An was entsinnen? Wer er war?  Was er hier ... ja was? Was er hier wollte? Aus dem Stadium des bewussten Wollens war er schon lange hinaus. Etwas trieb ihn voran, schob und zog ihn immer weiter, er wusste schon lange nicht mehr woher und wohin. Ab und an durchbrach es aber diesen Nebel, der sich um sein Ich gelegt hatte. Leuchtend rot schrie es dann mit flüsternder Stimme durch seine Lethargie. Fliehen. Entkommen. Konnte man dem Dschungel entkommen? Gab es einen Ausweg, oder wuchs der Wald so schnell, wie ER lief? War er das Zentrum dieser persönlichen Hölle? Oder gab es doch einen Ausweg? Aus. Weg. Aus. Weg. Aus. Weg.
Ja, allein ein Weg wäre ein Fortschritt, würde seine Vorrankommen vervielfachen. Alle Wege führten irgendwohin, warum sollte man sie auch sonst anlegen? Selbst wenn es nur der Trampelpfad eines Tieres wäre ... zumindest würde er dann auf ein Tier stoßen.
Oh, dieser Hunger.
  Natürlich wimmelte es in diesem Wald nur so von Tieren. Er sah ihre Schatten in der Ferne huschen, hörte ihre raschelnden Bewegungen im tiefen Gras, hörte das Flattern der Flügel, das Kratzen der Krallen auf Holz, wurde des nächtens von ihren unmenschlichen Schreien wach gehalten. Dann schrie er zurück. Schrie vor Hunger, schrie vor Schmerzen, schrie um wenigstens eine menschliche Stimme zu hören. Den Dschungel interessierte das aber nicht, er wuchs weiter, explodierte gewissermaßen in unfassbarer Vitalität und erwiderte seine Rufe mit seiner so vielstimmigen schrecklichen Stimme, die ihn in seinen tiefsten Träumen verfolgte, die er momentan nicht mehr nur mit den Ohren, sondern sogar in seinen Gedanken, aus sich selbst heraus hörte. So laut war es, dass es selbst die Tiere hören mussten, die vor ihm flohen sobald er auch nur in Sichtweite kam. Soweit er sich erinnern konnte ernährte er sich nur von gelegentlichem Aas oder Maden die in verfaulten Früchten krochen. An die Früchte selbst traute er sich nicht heran, ihre giftig schillernden Schalen konnten nichts gutes verheißen.
Und so kroch er durch das Dickicht, beschleunigte seine Schritte, wenn er etwas sah, dass ihm vielleicht als Nahrung dienen konnte, verzweifelte, wenn es ihm entkam, brach zusammen, wenn er zu erschöpft zum weitergehen war.
Hatte sein Leben jemals anderes ausgesehen? War da irgendwann, irgendwo einmal mehr gewesen als bloßes Existieren, ein krampfhaftes und stures Klammern an etwas, dass er nicht einmal mehr benennen konnte? Und was ...
SCHMERZ!
  Fernab jeglichen Bewusstseins und dennoch gepeinigt von seinen wirren Gedanken hatte er nach einer faulen Frucht greifen wollen. Etwas hatte ihn gestochen.
Was war es gewesen? Doch wohl kaum die Frucht, oder die fleischigen weißen Maden die sich in ihrer dicken Schale wanden.
Oh Gott, dieser Schmerz!
  Pochendes Feuer kroch seinen Arm, von der Wunde in seiner Hand aus, durch seinen Körper. Pulsierte die Wunde, oder war es nur sein trüber werdender Blick?
Mehr als trüb. Die Welt drehte sich um ihn, wurde zu einem schrecklichen Karussell, das verschwimmende grüne Schlieren in sein Bewusstsein brannte. So schnell schien es zu rasen, dass er die Konturen der Bäume, der Sträucher, ja auch seiner eigenen Hände nicht mehr auseinander halten konnte. Tief aus seinem Bewusstsein mischten sich schwarze Flecken dem betäubendem Mahlstrom bei, die anschwollen und anschwollen, bis ...
  Er erwachte von einem einzelnem, intensiven Sonnenstrahl der sich seinen Weg durch das Blätterdach gebahnt hatte. Im Gras liegend, bei dem erfolglosem Versuch das Geschehene zu verstehen, wurde ihm ein neuer Ton in der Welt gewahr. Eine leise Melodie im Lärm, eine sanfte Farbe hinter dem Horizont, etwas Offensichtliches an einem doch nicht erreichbarem Ort: greifbar, unverständlich und doch existent. Die genaue Natur dieser neuen Empfindung konnte er nicht begreifen, nicht verstehen, spürte aber, dass sie ihn eine bestimmte Richtung zog. Ohnehin längst ein Blatt im Sturm seiner Empfindungen, lies er sich auch jetzt treiben, versuchte sich zu erheben. Sich auf seine Hand stützend, fiel sein Blick auf sie und die Wunde. Erst jetzt fragte er sich, wie lange er wohl bewusstlos am Boden gelegen haben musste, sah doch der Stich nicht mehr frisch aus. Nahezu gänzlich verheilt war er, doch die umliegende Haut glänzte in einem feuchten Grünton.
Wie der Dschungel.
Doch konnte er hier etwas dagegen tun? Gab es eine Möglichkeit der Versorgung, die nicht auf pure Stagnation hinauslief? Gewiss nicht. Eines war aber untrüglich: eine neue Klarheit hatte sich mit dem unverständlichem Gefühl in seinen Geist eingeschlichen. Der zähe Nebel, der seine Gedanken die letzten Tage? Wochen? Jahre? so sehr beeinträchtigt hatte, war verschwunden, schnell und zielstrebig schossen sie durch seinen Kopf. Zielstrebig bewegte auch er sich, immer dem Ziehen und Zerren in ihm folgend in das schreckliche Grün des Waldes hinein.
Und wieder hörte er, wie schon so oft, das Schreien eines Tieres. Klang es aber dieses Mal nicht anders? War es nicht eher schmerzerfüllt, denn höhnisch? So klagend, so erschreckend es auch klang, so verlockend war es auch. Der Drang in ihm wurde zu einem unwiderstehlichen Zerren, ein scharfes Gefühl in seinem Rückrad zog sich durch Gedärm und Nerven bis in sein Hirn und endete erst irgendwo in der Ferne. Beim Ursprung des Schreies.
Fleisch.
Mit hervorquellenden Augen, heraushängender Zunge und blutigem Schleim an Nüstern und Maul lag ein rehähnliches Geschöpf im hohen Grase. Kein Raubtier, keine Gefahr, kein nachvollziehbarer Grund für das Ableben des Tieres war zu erkennen. Nur der Geruch des frischen Blutes lag in der Luft. Der unwiderstehliche, lockende Duft des noch warmen und nährstoffreichen Blutes. Nicht weniger Tier als all die verhassten Dschungelkreaturen, kaum mehr Herr seiner Sinne stürzte er sich auf den Kadaver, stopfte das Fleisch in sich hinein, dass er mit bloßen Händen heraus riss. So lang aß ... so lange fraß er, bis er erschöpft, und wohl das erste mal in seinem Leben gesättigt, von einem erneuten tiefen Schlaf übermannt wurde.

Überall.
 Das Gefühl war nun nicht mehr zielgerichtet. Überall um ihn herum, im Dickicht, manchmal mehr, manchmal weniger intensiv, schien es seinen Ursprung nicht mehr in einer einzelnen Quelle zu haben. Sanft war es, wie ein anhaltendes Flüstern. Und, ja – es sprach zu ihm, flüsterte stimmenlos in seinem Kopf und lenkte ihn wieder mal hierin, mal dorthin. Wieder war er nur ein Blatt im Wind, das an den hemmenden Klauen des Dschungels vorbei geweht wurde.
Grüne Klauen. Klauen. Hände. Hand.
Seine Hand! Die mittlerweile fast metallisch wirkende Farbe breitete sich mittlerweile bis zum Handgelenk aus. Die Gliedmaße war geschwollen, im Bereich des Stiches hatte sich die Haut verhärtet, fühlte sich fremd an. Nein. Nicht fremd. Immer noch ein Teil von ihm, ein neuer Teil. War nicht jede Veränderung in dieser ewig gleich bleibenden Hölle etwas gutes? Musste dann nicht auch dies ein Fortschritt sein? Oder war ...

Blut.
Seine Hände staken tief im Leichnam einer Kreatur, der ähnlich wie der Letzten das Blut aus dem Maul troff. Wie war sie gestorben? Wie war er zu ihr gelangt? Wie lange war er an diesem Tag schon durch den Dschungel geirrt, gezogen und gelenkt von diesem neuen Gefühl? War er nicht mehr Herr seiner Sinne? Aber waren da mehr Empfindungen als Hunger und Müdigkeit? Das Gefühl, ja. Aber ... sonst? War da nicht irgendwann auch mehr gewesen? Den Hunger stillte er am Fleisch, am Blut , so blieb nur die Müdigkeit.

Und wieder erwachte er im Gras. Gesättigt, aber unzufrieden. Das Gefühl war zu einem Verlangen geworden. Wie ein Hunger nach ... nun, er war hungrig. Aber nicht allein das, er wusste auch, wo es Nahrung gab. Das Leben um ihn herum bestand nicht mehr nur aus dem Schreien der Tiere, aus gelegentlichen dahinhuschenden Schatten und Spuren im Schlamm. Nein. Er konnte sie spüren, war sich genau ihrer Aufenthaltsorte bewusst, konnte sie fast riechen. Konnte sie hören. Konnte sie fühlen. Konnte sie aber nicht schmecken. Oh, wie sehr es ihm nach dem salzigen Geschmack des warmen Fleisches gelüstete. Es zerriss ihn, zerbrach einen Teil seiner Menschlichkeit und fand in den freigewordenen Stellen Platz zum Widerhall, bis es zu einem nicht mehr zu ignorierenden Ruf herangewachsen war. Und noch während er dem roten Strom folgte, der hinter seiner Stirn seinen Ursprung und bei einer nahen Kreatur sein Ziel fand, begann er sich zu fragen, wie er sie eigentlich erlegen sollte. Er war zu schwach, zu langsam, zu laut. Kein Tier würde ihn nahe genug heranlassen. Da war es auch schon. Mit scheuem Blick erhob es den breiten Kopf über einen Farn und schien ihn schon gewittert zu haben.
Stirb.
Ja, stirb. Stirb und gib mir dein Fleisch.
Ob allein ein Gedanke genügen würde? Wenn ein Gefühl ihn zu seinem Opfer bringen konnte, dann musste ein Gedanke ausreichen, es zu töten. Er oder es. Es oder er. Der Hunger war schon wieder unerträglich. Er schmerzte. Schmerzte in seinem Kopf. Schmerzte in seinen Eingeweiden. Schmerzte in seiner Hand. Seine Hand! So geschwollen war sie, dass er die Finger nicht mehr bewegen konnte. Geschwollen und in einem widernatürlichen Grün bis zum Ellenbogen gefärbt, schien sie jetzt zu pochen. Der Stich war zu einem Krater angeschwollen, der jetzt unerträglich schmerzte. Als würde sich etwas unter ihm bewegen. Ja, es schien ihm, als würde sich etwas aus den tiefsten Tiefen seiner Hand bis zu dem Loch durch das Fleisch wühlen, und viel schlimmer als der Schmerz war das Entsetzen als sich eben dieses bewahrheitete. Aus der Hand, aus der Wunde, aus dem Grün seiner Haut wühlte sich ein wespenhaftes Insekt. Aus dem Grün seiner Hand, durch das Rot seines Schmerzes, flog es in das Grün des Waldes. Flog auf die Kreatur zu.
Ein schrecklicher Schrei, ein zuckendes Aufbäumen. Roter Schleim in Maul und Nase. Fleisch. Warmes salziges Fleisch. Blut.
Blut in seinem Mund, Blut in seinem Magen, Blut in seinen Venen, Blut in seiner Hand. Ernährte er noch immer nur sich, oder war da jetzt mehr? Wenn die Wespen in ihm lebten, lebten sie dann auch von ihm? Nein. Er spürte, dass es anders war. Das die Wespe ein Teil von ihm gewesen war. Ein externen Organ, spezialisiert auf das Töten. Fremd war nur das Grün seiner Hand. Grün wie der Dschungel. Und wie der Dschungel vor Leben zu bersten schien, so pulsierte auch die Hand wieder, schien anzuschwellen und schmerzte dabei so sehr, dass es ihn erneut das Bewusstsein raubte.

Bewusstsein. Bewusst sein. Bewusst. Sein. Sein.
Ja. Jetzt war er. Er nahm wahr, dass seine Hand jetzt keine Hand mehr war. Angeschwollen zu einem formlosen Gebilde, dass kaum zu seinem Körper zu gehören schien. Auf ihm und in ihm, aus und um zahllose Löcher krabbelten wespenartige Insekten der ihm schon bekannten Natur. Ein Wespenstock. Aus seinem Arm ragte ein grotesker, grüner Wespenstock. Nein. Er war nichts fremdes. Sein Arm WAR ein Wespenstock. Die eingebüssten Finger erschienen ihm nicht als Verlust, wurden sie doch von den unzähligen Wespen mehr als nur ersetzt. Endlich kein Hunger mehr. Kein verdorbenes Fleisch, keine Maden!  Das Jagen würde keine Probleme mehr bereiten, eher im Gegenteil: er war zum Jagen geboren. Neu geboren. Seine neue Kraft, seine neuen Fähigkeiten bewundernd, bemerkte er, dass sich nicht nur seine Hand verändert hatte. An seinem Bein, und auch an seinem anderen Arm bildeten sich harte, grüne Stellen.
Wie Insektenpanzer.
Wenn das der Preis war, zog er es dem Verhungern gern vor. Und so stürzte er sich wieder in den roten Strom, lies sich zu einem Opfer treiben und verspürte die Befriedigung der Jagd. Die Wespen auszuschicken war ihm so natürlich wie das Ballen einer Faust, so wichtig wie das Atmen und unheimlich effektiv: selbst große Tiere waren kein Hindernis , verendeten durch das Gift der Wespen schnell und doch qualvoll. Und je mehr er aß, je mehr er tötete, desto einfacher wurde es. Der neue, fliegende Arm ward länger und länger, der rote Strom immer tiefer und reißender. Warum sich also nicht einfach fallen und treiben lassen? Alle Flüsse führen irgendwo hin.

Wie Insektenpanzer!
  Wie lange er durch das Rot geirrt war, wusste er nicht. Der Strom der Begierde, der Ruf der Wespen, hatte ihn davongerissen, er war in die Untiefen getaucht worden und war lange Zeit besinnungslos, nur vom Trieb gesteuert durch den Dschungel geirrt. Irgendwann war er aufgetaucht. Irgendwann war er aufgewacht. Aufgewacht aus dem Wahn, aus der Besinnungslosigkeit. Aufgetaucht aus dem roten Mahlstrom. Aufgetaucht aus einem kleinen Teich, in den er wohl gestürzt war.
Nun saß er am Ufer und betrachtete sein Spiegelbild. War das wirklich noch er? Grüne, metallisch glänzende Hornplatten bedeckten seinen ganzen Körper. Der Wespenstock, der einst seine Hand war, hatte eine enorme Größe erreicht, quoll fast über vor wuselnden und krabbelnden Leben. Wie würde das enden? Würde er sich selbst verlieren, auf ewig im roten Strom treiben, oder dort gar ertrinken? Würde er das letzte bisschen Menschlichkeit verlieren, würde er auch innerlich zu diesem Ding werden, dass ihm da aus dem Wasser entgegen starrte?
Nein.
Ob es ihm die Wespen zugesummt hatten, ob es eine plötzliche Erkenntnis war, oder der Dschungel ihm zuflüsterte, plötzlich wusste er. Er wusste, dass die Wespenhaftigkeit wie ein Ballon war, den er füllen musste. Füllen durch den Tod anderer Kreaturen. Durch jede erfolgreiche Jagd hatte er sich mehr verwandelt, doch seine Menschlichkeit nie verloren. Würde er es schaffen, sich nicht völlig hinzugeben, würde er es schaffen nicht im roten Strom unterzugehen, dann würde sich der Ballon immer weiter füllen.
Und irgendwann musste er platzen. Das Tier in ihm würde zerbersten und übrig würde nur der Mensch bleiben. Er war sicher, dass darin der Zweck der Verwandlung lag, dass die Wespen ihn nur eine gewisse Zeit brauchten. Alles was er zu tun hatte, war nicht unterzugehen. Er musste stark bleiben, den Wespen Nahrung liefern und den Ballon zum Platzen bringen. Er musste jagen. Und vor allem musste er versuchen, NEBEN dem roten Strom zu laufen, um nicht wieder unterzugehen. Wenn seine Menschlichkeit ertrank, dann würden nur die Wespe überleben.
Und so verschwand er im Dschungel, verschmolz mit dem Grün, dass ihn mit seinen Ranken bereitwillig umfing ....

FIN
 

Nagut, was gibt es dazu zu sagen? Ist halt ne absurde Kurzgeschichte über das Menschsein, die Menschwerdung und das Tier im Manne. Quasi. :)